Wie wir auf Krisen reagieren und warum die Covid-19-Pandemie eine besondere Herausforderung ist

Die Corona Pandemie mit all ihren Auswirkungen und Einschränkungen auf unser privates und berufliches Leben ist eine weltweite Krise. Für Schulen können sich häufige Veränderungen und das Fehlen des „regulären“ Schulbetriebs, möglicherweise bestehende Unsicherheiten oder sich entwickelnde (Gesundheits-)Ängste bei Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern auch zu einer schulischen Krise im eigentlichen Sinne entwickeln. Der folgende Artikel dient der psychologischen Einordnung möglicher Reaktionsmuster und möchte begleitende Impulse geben zur Gestaltung dieser Zeit. 

Krisenhafte Ereignisse im Allgemeinen, wie z.B. der Tod von Schulangehörigen o.ä. erzeugen eine hohe Verunsicherung und fordern auch gegen innere Widerstände eine Anpassungsleistung aller am Schulleben Beteiligter. Doch wie entstehen Veränderungen, welche Kräfte sind dort aktiv, wie lassen sich solche Prozesse gut begleiten und gibt es Besonderheiten, die in einer Lage wie der vorliegenden Corona-Pandemie zu bedenken sind?

Wie durchlaufen wir Veränderungsprozesse und welche Reaktionen auf krisenhafte Ereignisse sind typisch?

Was ist das Besondere an der aktuellen COVID-19 Pandemie?

Welche Konsequenzen hat das für die Begleitung von Schulgemeinschaften?

Mit welchen Entwicklungen ist in der kommenden Zeit zu rechnen?


Wie durchlaufen wir Veränderungsprozesse und welche Reaktionen auf krisenhafte Ereignisse sind typisch?

Ein immer noch maßgebliches Erklärungsmodell für den Ablauf von Veränderungsprozessen ist das Phasenmodell Kurt Lewins. Es basiert auf der sogenannten „Feldtheorie“ und beschreibt die Wechselwirkungen zwischen im Wesentlichen zwei grundsätzlich wirksamen Kräften in Organisationen: Einerseits sind das die Kräfte, welche den Erhalt des Status Quo fördern (z.B. mangelnde Ressourcen, Sicherheitsstreben, Ängste aber auch Gewohnheiten) und andererseits die Kräfte, die Veränderungen provozieren (z.B. ein krisenhaftes Ereignis). Ein Wandel erfolgt dem Modell zufolge wenn das Gleichgewicht vorübergehend zu Gunsten der drängenden Veränderungskräfte verschoben wird. Das heißt, dass obwohl eigentlich keine Veränderung gewünscht war, drängen einen die äußeren Umstände zu Anpassungsleistungen.

Die Corona-Pandemie stellt hier ein solches, kraftvolles Ereignis dar, welches das System Schule und vor allem die in ihm wirkenden Menschen zu deutlichen Abweichung von den täglichen Routinen zwingt.

Solche Veränderungen und erst recht, wenn sie abrupt erfolgen, lösen eine Reihe emotionaler Reaktionen aus. Diese vollziehen sich nach Richard K. Streich dabei in 7 Phasen:

Krisenverlauf

 

1. Schock: Die Veränderung wird aus emotionalen Gründen abgelehnt. Typisch ist hier eher eine ungläubige Starre. In Bezug auf die aktuelle Lage bedeutet das das vielleicht das ungläubige Verfolgen der Nachrichten und der steigenden Zahlen. „Wie kann es sein, dass das passiert, das ist alles irgendwie unwirklich.“

2. Ablehnung: Die Notwendigkeit einer Veränderung wird mit rationalen Argumenten angezweifelt, z.B. durch Argumente wie: „Die Grippewelle war auch schlimm und da hat niemand so eine Panik verbreitet“. Oder: „Wie soll das mit Blick auf die Wirtschaft und Bildungssysteme funktionieren“. 

3. Rationale Einsicht: Die Sinnhaftigkeit der Veränderung wird erstmals in Betracht gezogen. „Vielleicht ist es doch nicht notwendig, jeden Tag ins Büro zu fahren, vielleicht geht Schule eine Weile auch einmal anders.“

4. Emotionale Akzeptanz: Nach der rationalen Einsicht folgt nun auch die emotionale Bereitschaft. „Ok, eigentlich sind Menschenleben das Wichtigste in der Sache. Gemeinsam werden wir das schon meistern.“

5. Lernen: Die Bereitschaft, die Veränderung aktiv anzugehen und daraus zu lernen. Hier wird aktiv nach neuen Wegen gesucht, die benötigten Dinge einmal anders zu tun. Es wird Energie in neue Lernprozesse gesteckt und mögliche Fehler als Lernprozess akzeptiert. „Ich probiere das einmal mit der Telefonkonferenz, dem Beratungsgespräch auf Abstand beim Spaziergang oder dem Hausbesuch per Videoanruf.“

6. Erkenntnis: Die positiven Effekte des zurückliegenden Prozesses werden deutlich und bestätigen, dass es anders möglich ist. „Das funktioniert gar nicht so schlecht. Vielleicht behalte ich das sogar bei.“

7. Integration: Die positiven Resultate führen dazu, dass Veränderungen künftig als selbstverständlich und notwendig betrachtet werden. „Natürlich nutze ich die digitalen Möglichkeiten, mit Schülern in Kontakt zu kommen oder um mit einzelnen Kollegen und Kolleginnen ins Gespräch zu kommen. Händewaschen ist für mich zu einem noch bewussterem Ritual geworden.“

Typische krisenhafte Ereignisse sind in der Regel gekennzeichnet von einem klaren auslösenden Ereignis und ggf. kleinerer oft in direkter Folge stattfindender „Nachbeben“. Das führt bei den Betroffenen zu einer zeitlich klar umrissenen Anspannungskurve, in der die oben beschriebenen Bewältigungsstrategien zum Tragen kommen. Im Anschluss daran kann eine Integration der Ereignisse und die Regeneration von der fordernden, akuten Zeit stattfinden.

 

Was ist das Besondere an der aktuellen COVID-19 Pandemie?

Im Zuge der COVID-19 Pandemie haben wir es allerdings mit einem abweichendem Verlauf zu tun. Noch bevor die neuen Routinen ausprobiert und gefestigt werden können, werden aufgrund der sich ständig verändernden Lage neue Anpassungsleistungen gefordert. So sind in den letzten Monaten bereits mehrere weitreichende Entscheidungen getroffen worden und jede Schulmail erfordert neue Anpassungsleistungen von der Schulgemeinschaft Die Integrations- und Regenerationsphase fällt aus, bzw. wird mit jedem neuen Anpassungserfordernis wieder nach hinten geschoben.

verängerte Krise

 

Gesundheitsexperten gehen davon aus, dass uns die COVID-19 Pandemie trotz Entwicklung eines Impfstoffes noch eine Weile begleiten wird. Analog zu den gesamtgesellschaftlichen Anpassungsleistungen wird das auch für das Schulleben noch über Monate hinweg eine kontinuierliche an die aktuelle Lage angepasste Veränderungsleistung erfordern. Statt sich wie sonst bei einem krisenhaften Ereignis in einen Sprint zu begeben, auf den nach einer begrenzten sehr anstrengen Phase eine Erholungsphase folgt, ergibt sich in dieser Lage die Notwendigkeit sich eher auf einen Marathon vorzubereiten. Bei diesem müssen die Kraftreserven so gut genutzt werden, dass sie bis zur Ziellinie ausreichen.

  

Welche Konsequenzen hat das für die Begleitung von Schulgemeinschaften?

Eine unterstützende Begleitung von notwendigen Veränderungsprozessen nach Krisenereignissen sucht sinnvollerweise immer nach Möglichkeiten die oben beschriebenen Beharrungskräfte zu verringern. Sie sucht also nach Interventionen, die geeignet erscheinen, die vorhandenen Ressourcen zu stützen, das Sicherheitsbedürfnis ernst zu nehmen, Ängste abzubauen und Gewohnheiten, wo immer möglich, aufrecht zu erhalten. 

Wie können vorhandene Ressourcen unterstützt und gut eingesetzt werden?

Der ausbleibende Zustand der Normalität wird voraussichtlich Auswirkungen haben auf die Bereitschaft und die Möglichkeiten, die anstehenden Veränderungsleistungen zu erbringen. Durch den notwendigen Schutz der Risikogruppen sind Kollegien und auch die Belegschaften des Ganztages voraussichtlich stark dezimiert. Die Verantwortung für das Gelingen wird auf weniger Menschen verteilt. Da ein Mangel an Ressourcen, egal ob objektiv vorhanden oder subjektiv empfunden nach den oben genannten Erklärungsmodellen Widerstände erhöhen wird, ist es hier notwendig mit einer deutlichen Prioritätensetzung an die zu erfüllenden Aufgaben heranzugehen und damit die vorhandenen Ressourcen so gut es geht zu schonen. 

Im Rahmen der bestehenden Vorgaben ist es daher empfehlenswert an jeder Schule, die individuelle Lage gut zu prüfen und dafür zu sorgen, dass keine unnötigen Energien verloren gehen. Schulleitungen und Lehrkräfte können dazu die folgenden vier sehr bewährten Leitfragen nutzen:

Muss das sein? – Prüfen Sie hier alle Aufgaben auf Notwendigkeit und streichen Sie konsequent alle Aufgaben, die nicht absolut notwendig sind. Welche Unterrichtsangebote, welche Gespräche, welche Hilfsangebote sind nun unabdingbar, welche können ausfallen?

Muss ich das sein? – Hier geht es um die Frage, welche zusätzlichen Ressourcen Ihnen ggf. noch zur Verfügung stehen. Was müssen Sie wirklich selbst machen? Welche Tätigkeiten können Sie ggf. delegieren? Haben Sie alle am Schulleben beteiligten Gruppen berücksichtigt und einbezogen? Auch die, die gerade noch nicht in der Schule sind? Wer könnte Ihnen da noch zuarbeiten, etwas abnehmen?

Muss das so sein? – Hier geht es um die Frage, ob Sie bestimmte Dinge einmal anders machen können oder sollten, um Ressourcen besser zu nutzen. Welche Medien, Kommunikationsformen machen jetzt Sinn? Wo muss aktuell sehr gewissenhaft gearbeitet werden? Welche Aufgaben dürfen aber auch eher schnell als gründlich abgearbeitet werden?

Muss das jetzt sein? – Werden wir in einer Tätigkeit unterbrochen fordert dies viel Konzentrationsleistung, wieder in die Aufgaben hineinzukommen. Prozesse und Aufgaben dauern dadurch unnötig lang. Haben Sie Zeiten in denen Sie trotz Krisenintervention ungestört arbeiten können? Wie könnten Sie für einige kurze ungestörte Arbeitsphasen am Tag sorgen?

Welche Rolle spielen jetzt Ängste und Sicherheitsbedürfnisse?

Neben den personellen und materiellen äußeren Ressourcen sind die inneren Ressourcen eines jeden Einzelnen am Schulleben Beteiligten entscheidend. Wer weniger Angst hat und mutig und neugierig an die neue Situation herantritt und gute Strategien bzgl. des eigenen Gesundheitsmanagements verfolgt, begegnet der neuen Lage schon innerlich gestärkt.

Ängste haben ihre Berechtigung und schützen davor, unnötige Risiken einzugehen. Sie sollten benannt und besprochen werden dürfen und keinesfalls bagatellisiert werden. Gerade die Sorgen von Risikogruppen sind ja durchaus berechtigt. Die zunehmende soziale Isolation und Distanzierung mit gleichzeitiger massiver Konfrontation mit möglichen Gefahren durch die Medien kann sowohl bei Schülerinnen und Schülern aber auch bei den Erwachsenen in Schule tätigen Personen zu einer Verstärkung von Sorgen und Ängsten führen. Der Sprung zurück in die Schulgemeinschaft kann dadurch für den einen oder anderen zu einer Hürde werden. Gegebenenfalls wird der Status Quo, ich will im sicheren zuhause bleiben, auch mit großer Vehemenz, analog zur Abwehrphase 2 verteidigt.

Neben der Sicherstellung aller Hygienestandards und damit der Erfüllung eines sehr berechtigten Sicherheitsbedürfnisses können gute verständnisvolle Gespräche im Kollegium oder mit Freunden und Partnern schon viel bewirken. Schulleitungen, Lehrkräften, Schülerinnen und Schüler steht zusätzlich das Angebot der regionalen schulpsychologischen Beratungsstellen zu Verfügung. Hier kann mit Zeit und Ruhe und in einer vertrauensvollen Umgebung ein Weg des Umgangs mit diesen Ängsten und der Weg zurück in eine neue „Normalität“ erarbeitet werden.

Mit welchen kollegialen Dynamiken ist zu rechnen?

In den überwiegenden Fällen lösen krisenhafte Ereignisse ein hohes Maß an Solidarität und Gemeinschaftsgefühl aus. Die hohe Anspannung in einem Krisengeschehen kann immer auch zu unglücklichen, zwischenmenschlichen Situationen führen. Jeder einzelne in Schule tätige Mensch betrachtet die Situation aus unterschiedlichen Rollen und Perspektiven. Man ist Schulleitung, Lehrkraft und sich seiner Verantwortung für die aktive und gelingende Gestaltung des kommenden Prozesses bewusst, man ist aber auch Vater, Mutter, Tochter, Sohn, Angehöriger einer Risikogruppe oder einfach Privatperson mit eigenen Sorgen und Vorstellungen davon, wie die Lage einzuschätzen ist. Und nicht immer sind diese Rollen gut miteinander vereinbar. Diese Beschäftigung mit inneren Prozessen erfordert ebenfalls Ressourcen und der mit Krise einhergehende Zeitdruck zerrt zusätzlich an den Nerven. Zusätzlich geht jedes Schulmitglied von einem unterschiedlichen, persönlich empfundenen Energielevel und einer damit verbundenen gefühlten Leistungsfähigkeit aus in diese Situation hinein.

In solchen Phasen können unterschwellig bereits vorhandene Konflikte aufbrechen oder Kleinigkeiten eskalieren, die in „normalen“ Zeiten nicht weiter erwähnenswert gewesen wären. Wichtig ist hier im Krisengeschehen nicht weiter zu eskalieren. Nehmen Sie solche Prozesse zwar wahr und planen Sie, falls nötig, eine Aufarbeitung und Besprechung. Schmieden Sie das Eisen aber unbedingt wenn es kalt ist, um in dieser angespannten Situation nicht weitere Ressourcen zu vergeuden. Und wo immer es Ihnen möglich ist, sehen Sie diese Prozesse zunächst einmal gelassen als ganz gewöhnliche und verständliche Auswirkungen ungewöhnlicher Zeiten an.

Welche Bedeutung haben liebgewonnene Gewohnheiten jetzt noch?

Rituale und Gewohnheiten geben Sicherheit und ermöglichen die eigene Leistungsfähigkeit möglichst energieeffizient abzurufen. Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften, Schulleitungen haben in den vergangenen Monaten viele ihrer liebgewonnen und bewährten Rituale aufgeben müssen. Auch ohne den gewohnten Schulbetrieb ist es daher sehr empfehlenswert, wo immer möglich diese gewohnten Strukturen zuzulassen und wo immer nötig diese nur minimalinvasiv abzuändern. Diese Abläufe sind mit minimalem Energieaufwand funktional und bieten ein Stück Normalität in den ungewohnten Zeiten. Dabei sind gerade soziale Zusammenkünfte und Beziehungsangebote heute wichtiger denn je. Solange sie persönlich noch nicht möglich sind, müssen gerade sie so gut wie möglich, in den digitalen Raum gerettet werden. Die gemeinsame Tasse Kaffee im Kolleg*innenkreis oder das Frühstück mit der Klasse gehen eben genauso im digitalen Raum wie das Absprechen der Wochenaufgaben.

 

Mit welchen Entwicklungen ist in der kommenden Zeit zu rechnen?

Auch wenn wir in der Lage viel gelernt haben, fällt ein verlässlicher Ausblick schwer. Die kommenden Wochen werden voraussichtlich fordernd bleiben und Gesundheitsfragen werden nicht nur mit Blick auf den Virus, sondern auch mit Blick auf mögliche Überforderungen bei allen Beteiligten der Schulgemeinschaft eine Rolle spielen. Hier wird es wichtig sein, sich als Schulgemeinschaft gut im Blick zu behalten, sich schulintern gut gegenseitig zu unterstützen und gemeinsam die Personen aufzufangen, die stärker von der Situation betroffen und belastet sind. Diese Zeiten erfordern auch eine Kultur, in der sich niemand scheut, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und ggf. zusätzliche auch schulexterne Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Trotz der fordernden Zeit geben einige aus Krisen bekannte Mechanismen, Anlass zu Zuversicht und viele dieser Phänomene ließen sich bereit in den letzten Monaten beobachten.

Ja, Krisen decken Schwachpunkte auf, weisen auf Veränderungsbedarfe hin und sind oft unglaublich anstrengend. Sie führen aber durch den oben beschriebenen Anpassungsdruck auch immer zu positiven Lerneffekten, dem Anstieg von Solidarität und gegenseitiger Unterstützung und fast ausnahmslos gehen Menschen und schulische Systeme gestärkt aus solchen Erfahrungen hervor.

Schlange stehen am Supermarkt und Menschen, die am Eingang Desinfektionsmittel austeilen, waren Anfang 2020 noch nicht denkbar. Gesichtsmasken im Alltag kannten wir früher nur aus Fernsehberichten aus asiatischen Großstädten. Heute haben wir uns an viele dieser Bilder schon gewöhnt.

Aufgrund der außergewöhnlichen Fähigkeiten des Menschen sich an neue Umstände zu gewöhnen ist daher anzunehmen, dass wir uns auch an die neue Schule gewöhnen, die Corona uns gerade aufzwingt. Wir dürfen uns eine möglichst schnelle Rückkehr zur Normalität wünschen, wir dürfen aber auch berechtigt davon ausgehen, dass wir gestärkt aus diesen Erfahrungen in eine vermutlich leicht andere Schule zurückkehren.