In diesem Abschnitt geht es um Lern- und Leistungsschwierigkeiten, die möglicherweise aus Zeiten von Schulschließungren heraus entstehen. Diese potentiellen Schwierigkeiten trugen mit zur Namensgebung „Corona-Gap“ bei. Der Grund ist, dass wir das weitere Auseinanderdriften der sowieso bestehenden Leistungsschere in Deutschland vermuten.
Für das, was in diesem Abschnitt beschrieben und gedacht wird, gibt es keine Blaupause. Es sind Erfahrungen, die Experten aus verschiedenen Bereichen zusammengetragen haben. Wir wünschen uns, dass das im Folgenden Gesagte, eine deutlich übertriebene Darstellung ist. Wir wissen auch, dass hier viel pauschalisiert wird. Doch diese „didaktische Reduktion“ ist sinnvoll: Sie dient dazu, das Problem bewusst zu machen und zum Nachdenken anzuregen. Wir glauben, dass schon viel gewonnen ist, wenn Sie als Schulleitungen und Sie als Lehrkräfte für die hier angesprochenen Probleme einen „Gefahrenradar“ entwickeln. Haben Sie dies als Hypothese für Lernschwierigkeiten Ihrer Schülerinnen und Schüler „auf dem Radarschirm“.
Und – ja – natürlich fragen wir uns, ob das, was im Folgenden gedacht wird, nicht alles viel zu schwarz gemalt ist? Vielleicht. Wir glauben aber auch, dass es in jeglicher Hinsicht sinnvoll ist, sich mit diesen Gedanken auseinanderzusetzen. In solcher Weise vorbereitet, können zahlreiche Probleme schneller erkannt, darauf reagiert und langfristige Folgen bei einzelnen Schülerinnen und Schülern reduziert werden.
In Zeiten von Schulschließungen und Distanzunterericht haben alle Schulangehörigen eine besondere Zeit erlebt: Schule findet „irgendwie“ außerhalb von Schule statt. Unterstützt wurde diese „Außerhalb-Schule“ durch Materialien und Kommunikation von Schule in das häusliche System. Auf Seiten der Schüler gab es jedoch auch das Gefühl, dass es sich bei den Schulschließungen um so etwas wie „verlängerte Ferien“ handelt. Die Feriengefühle wurden z. B. im Frühjahr durch das gleichzeitige schöne Wetter verstärkt, vielfach kursierte auch der Begriff der „Corona-Ferien“.
Den Eltern obliegt aus deren Sicht eine besondere Rolle:
Durch die Verlagerung der (zumindest gefühlten) Verantwortung für die Vermittlung und Bearbeitung schulischer Lerninhalte in das häusliche Umfeld entstehen nach der Zeit der jeweiligen Schulschließung möglicherweise folgenden Schülergruppen:
Diese Schülergruppen werden vermutlich unterschiedlichen Häufungen in allen Schulformen auftreten.
Frage: Kommen solche „Bildungsverlierer“ auch an Gymnasien vor?
Ja! Bildungserfolg ist in Deutschland stark vom Elternhaus abhängig. Auch (und gerade?) an den Gymnasien gibt es Schüler*innen, die stark durch Eltern fremdmotiviert sind. Diese Schülergruppe wird zu großen Teilen auch gut durch die Corona-Krise gekommen sein, wenn die Eltern ihre Unterstützung wie gehabt durchführen konnten. Aber es gibt natürlich auch Schüler*innen, die diese Schulform aus innerer Motivation heraus schaffen. Durch den Wegfall der schulischen Strukturen und der dann möglicherweise nicht vorhandenen häuslichen Unterstützung ist aber zu befürchten, dass diese Schülergruppe sich abgehängt fühlen wird, wenn sie wieder in die Schule kommt. Es ist zu vermuten, dass gerade an den Gymnasien die Diskrepanz zwischen dem schulisch erwarteten und häuslich leistbaren sichtbar werden wird.
Frage: Gibt es soziale Effekte, wenn diese drei Gruppen aufeinandertreffen?
Ja! Die wird es geben, und die sind auch nicht immer ganz vorhersagbar. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Schüler erzählen, was sie in den „Corona-Ferien“ gemacht haben:
Schüler A: „Das mit den Hausaufgaben war ja echt `ne Nummer, ich war froh, als ich mittags immer fertig damit war. Meine Mutter hat mich 4 Stunden daran arbeiten lassen. ‚Musst du ja sonst auch! ‘ hat sie gesagt.“
Schüler B: „Bis du bescheuert? Ich habe immer nur so ein bisschen getan, dass ich was mache, und dann gleich gezockt. Cool, wenn man mal an Fortnite dranbleiben kann. Bin zum Chef der Gilde aufgestiegen!“
Überlegen Sie: Wer fühlt sich nach diesem Gespräch wie? Was wird das mit der Lerngruppe machen, die dieses Unterhalten mitbekommen hat? Wie soll die Lehrkraft darauf reagieren?
Mit den folgenden Effekten einer Schulschließung auf der Leistungsebene wird zu rechnen sein:
Es gibt innerhalb des Schulsystems mindestens zwei gravierende Verstärker des Corona-Gaps:
Gedankenexperiment zu einer Haltungsfrage: Ist die Schülerin noch für die Schule geeignet?
Die Schülerin Marie-Christin geht in die 7. Klasse eines Gymnasiums. Nach der Wiedereröffnung der Schule kommt sie „irgendwie anders“ in die Schule zurück. Sie ist still, und zurückgezogen. Ihre Hausaufgaben aus der Zeit der Schulschließung sind unvollständig. Die ersten Klassenarbeiten sind im Bereich 4 und 5. Da sie vor der Zeit der Schulschließung auch als mittelmäßige Schülerin galt, fällt der Leistungsabfall zunächst nicht auf. Sie „rettet sich“ in die 8. Klasse. Am Ende dieser wird mit Ihr und ihren Eltern ein freiwilliger Rücktritt oder der Schulwechsel auf eine Realschule beraten.
Aus dieser Beschreibung können zwei unterschiedliche Erklärungshypothesen seitens der Schule abgeleitet werden:
Es ist offensichtlich, dass die letztere Variante der individuellen Lernausgangslage der Schülerin wesentlich mehr Rechnung trägt. Ein frühzeitiges Beratungsgespräch mit der versetzungsgefährdeten Schüler*innen und ihren Eltern wäre eine erste, niedrigschwellige Maßnahme. Ziel wird es sein, neben dem Verständnis für die Situation der Schülerin gemeinsame Vereinbarungen zu individuellen Fördermaßnahmen zu treffen.
Eine weitere psychologische Variable wirkt ebenfalls verstärkend auf den Effekt: Die Tendenz, möglichst schnell zum Alltag überzugehen. Diese ist verständlich, denn der Alltag gibt uns Sicherheit. An anderer Stelle wird auch gesagt, dass dies eine wichtige Handlungsstrategie in der Reduktion von Unsicherheiten ist. Diese Tendenz hin zum Alltag verschleiert bzw. verstärkt möglicherweise die negativen Effekte im Leistungsbereich:
Aus der schulpsychologischen Beratung wissen wir, dass Lernlücken von Schüler*innen, die sie z.B. durch einen längeren Krankenhausaufenthalt o.ä. erworben haben, schnell größer werden können, wenn in der Schule nicht darauf Rücksicht genommen bzw. im Rahmen der individuellen Förderung nicht darauf eingegangen wird. Die Schüler*innen fühlen sich dann wie im Märchen vom „Hasen und dem Igel“: Wenn ein(e) Schüler*innen sich anstrengt und eine Lernlücke geschlossen hat, sind die anderen immer schon wieder weiter. Für „Schule“ heißt das: Wenn nach der Corona-Krise schnell wieder zum „Business as usual“ übergegangen wird, können bei den og. „Bildungsverlierern“ auch kleinere Lücken schnell größer werden, und damit der Schulerfolg deutlich gefährdet sein. Globale Maßnahmen, wie z.B. das angedachte Aussetzen von Noten oder der Versetzungsregelungen etc. können hier nicht die einzige Lösung sein
(hiermit ist nicht die einzelne Schule gemeint sondern das gesamte Schulsystem in NRW)
In Krisenzeiten wie diesen wird es notwendig sein, einige Systemregeln (zeitweise) außer Kraft zu setzen bzw. so zu modifizieren, dass es einen Kompromiss zwischen den Interessen aller beteiligten Gruppierungen geben kann. Vielleicht werden sich die Älteren noch an die „Kurzschuljahre 1966/67“ erinnern. Auch hier gab es die Notwendigkeit, für zwei Schuljahre die Systemregel teilweise auszusetzen bzw. der besonderen Situation anzupassen. Negative Langzeiteffekte gab es kaum. Vor einer ähnlichen Situation stehen wir 2020 und 2021 auch.
Solche Systemregeln sind beispielsweise:
Wir können hier keine konkreten Maßnahmen vorschlagen. Wir können nur dafür plädieren, mit diesen Systemregeln flexibel und im Sinne der Schüler*innen (und damit auch der Lehrkräfte) umzugehen. Die Möglichkeiten im Rahmen der individuellen Förderung und der passgenauen Fördermaßnahmen ermöglichen beispielsweise einen großen pädagogischen Freiraum für die Lehrkräfte, zu einer Notenfindung im Sinne der Schüler*innen zu kommen
Wir werden es mit einer Schülerschaft zu tun haben, die nach der Corona-Schulschließung unter Umständen deutlich leistungsheterogener geworden ist. Aus der Lernpsychologie wissen wir, dass Lernen am besten gelingt, wenn der Lernstoff an den Vorerfahrungen/am Vorwissen des Lernenden anknüpft.
Basierend auf diesen Gedanken sind die folgenden Maßnahmen auf Ebene des Unterrichts besonders zielführend:
Es ist sinnvoll, sich die Lernvoraussetzungen/den Kenntnisstand der Schüler*innen in jedem Fach anzuschauen und versuchen, an diesem Kenntnisstand anzuknüpfen. Das gilt für alle Schüler*innen, also auch für die, die möglicherweise mit besseren Leistungen in die Schule starten, als vor der Schulschließung. Wie kann das gehen?
Folgende Materialien zur Einschätzung können haben wir für Sie vorbereitet. Sie können Sie auf Ihre Bedürfnisse anpassen:
Das teilweise außer Kraft setzen von Systemregeln (v.a. geringerer Notendruck und Vermeiden von Wiederholungen) bietet auch vielfältige Chancen. Die vielfältigen Möglichkeiten individualiserten Unterrichtens, die von den Lehrkräften als bisher gelebte Praxis umgesetzt werden, bieten gerade in dieser Zeit eine sehr gute Grundlage, auf der wir weiter aufbauen können. Hierzu gehören auch: