Zusammensetzung der Lerngruppen als Faktor

Die Klassenzusammensetzung ist ein in seiner Wirkung nicht zu unterschätzender Interventionshebel bei Mobbing aber auch eine Präventionschance. Im normalen Schulalltag ist eine umfassendere Veränderung der Lerngruppe eher die Ausnahme, nicht selten erschöpft sie sich in einer Umsetzung von Täter und/oder Opfer. Die kleineren Gruppen des nun beginnenden Präsenzunterrichtes nach dem Lockdown von Schule eröffnen allerdings Variationsmöglichkeiten, die so vorher nicht da waren. Die folgenden Inhalte können in Analogie natürlich auch bei Interventionen in späteren Zeiten genutzt werden, wenn auch sicher schwerer umsetzbar im Alltag. Allein das Nachdenken über die verschiedenen Rollen und die Gruppendynamik kann aber schon helfen, Mobbingprozesse besser zu verstehen. Interviewt wurde Frau Prof. Mechthild Schäfer von der LMU München:

Welche Chancen bietet der geplante Präsenzunterricht in kleinen Gruppen für ein verfahrenes Klassenklima?

Mechthild Schäfer: Die Schülerinnen und Schüler sind in einer neuen Situation, wenn sie jetzt wieder in die Schule kommen und gruppenweise Unterricht haben. Plötzlich ist alles anders für sie, sie lernen anders, die Räumlichkeiten sind anders, sie tragen womöglich Masken. Das bindet erst einmal viel Aufmerksamkeit und vielleicht sorgt das auch dafür, dass sich die Kids bis zu einem gewissen Grade neu orientieren und nicht gleich wieder in die alten Rollen fallen. Und das bringt uns auf ein Gedankenexperiment: Lasst uns doch versuchen, das zu nutzen, um das Klassenklima zu verbessern, dort wo es nötig ist. Vielleicht sogar zu erreichen, dass Mobbing nicht so spielend weiterläuft und dass Kinder in den kleineren Gruppen Erfahrungen machen, die anders sind als das, was sie im gesamten Klassenverband erlebt haben.

Wir alle, und eben auch Schülerinnen und Schüler, reagieren auf unterschiedliche Konstellationen unterschiedlich. Deswegen könnten gut überlegte Konstellationen bei den Klassenteilungen, wenn Lehrerinnen und Lehrer in der auch für sie völlig neuen Situation überhaupt an solche Dinge denken mögen, da womöglich helfen. Dass man bestimmte Leute eher nicht mehr zusammenhat, könnte helfen, die alte Gruppendynamik zu durchbrechen. Dabei geht es nicht nur darum, Täter und Opfer zu trennen. Die moderne Forschung sagt: Mobbing ist ein Gruppenphänomen, es geht um den „Kampf“ um Anerkennung. Dass es dabei Opfer gibt, sind eher die Kollateralschäden. Den sogenannten Assistenten, die sonst für den Täter die kleinen Drecksarbeiten machen, wären nicht mehr unter dem Rettungsschirm des Täters. Die nicht so starken Verteidiger des Opfers könnten neu lernen, sich zu emanzipieren, ebenso wie die vielen Außenstehenden, die Mobbing nicht gut finden und sich dadurch tendenziell gestresst fühlen. All das könnte die Situation und damit das Klassenklima entspannen. Das wäre die Chance.

Wie könnte denn die Aufteilung einer Gruppe, in der Mobbing stattfindet, zum Beispiel aussehen? Oder anders: Was können Lehrkräfte in solch einem Fall konkret berücksichtigen, wenn sie – bei Wiederaufnahme des Schulbetriebes – ihre Klassengruppen aufteilen sollen?

Mechthild Schäfer: Wenn coronabedingt eine Aufteilung von Lerngruppen ansteht, dann kann diese so erfolgen, dass sie einer bestehenden Mobbingstruktur in der Klasse entgegenwirkt. Zunächst einmal sollten Bully (Täter) und Opfer in getrennte Gruppen. Dann ist es hilfreich, wenn in die Tätergruppe sowohl Verteidiger des Opfers als auch Außenstehende aufgenommen werden. In der anderen Gruppe, in der ich das Opfer befindet, sollten zudem auch Assistenten des Täters aufgenommen werden – jedoch in geringerer Anzahl als Verteidiger und Außenstehende.


Grafik 1: Modellhafte Aufteilung einer Klasse

Was würde dann nach Ihrer Meinung passieren?

Mechthild Schäfer: In der Gruppe ohne Täter verlieren die ehemaligen Assistenten ihre Bezugsgruppe (Täter, Verstärker und Assistenten). Es besteht eine gute Chance, dass sie sich an der neuen Gruppe orientieren und sich in dieser ein positives Miteinander aller entwickelt. Die ehemaligen Assistenten erleben also ein neues Wertesystem – das alte, ausgelöst durch den Täter fehlt. Weiterhin wird das Opfer weniger als solches behandelt, es kann erstmals selbst seine Rolle wählen und es kann begreifen, dass es nicht der Grund für Mobbing ist.

Und was passiert mit dem Täter?

Mechthild Schäfer: In der Gruppe, in der der Bully verblieben ist, bleibt dieser weiterhin dominant – nur ohne Opfer. Und jetzt kommt die Lehrkraft zum zweiten Mal ins Spiel: Ihre Aufgabe ist es, sich die „Popularität“, die der Bully in seiner Gruppe hat zunutze zu machen, und ihn/sie positiv in die Pflicht zu nehmen. Dies wird in einer kleinen Gruppe besser gelingen als in einer großen.

Woran mache ich nun fest wer in welche Gruppe gehört? Wenn ich zum Beispiel nur ein ungutes Gefühl habe aber noch nicht genau weiß wer Täter oder Betroffener ist?

Mechthild Schäfer: Hierzu haben wir ein einfaches Arbeitsblatt erstellt. Ziel dieses Blattes ist es, sich Gedanken über die oben angesprochenen Rollen innerhalb einer (Lern)Gruppe zu machen, also „Anführer“ bzw. möglicher Täter („Bullies“), ihre Verstärker und Assistenten, das Opfer, seine Verteidiger und neutrale Außenstehende. Mit dieser Arbeitshilfe erstellen die Lehrkräfte ein rudimentäres „Soziogramm“ über die Klasse und kann dann mit diesen Informationen die beiden neuen Lerngruppen zusammenstellen. So gesehen kann mit wenigen Minuten Arbeit sehr viel erreicht werden!

 

Weiterführender Link:

http://schülerforscher.de/#corona

(direkt zum Artikel: http://www.schülerforscher.de/assets/pool/bibliothek/arbeitsblaetter/gedanken-experiment-corona/ein-gedankenexperiment-zur-teilung-von-klassen.pdf )

 

 

Erstellt unter Nutzung von Materialien von der LMU München. Quelle: https://www.uni-muenchen.de/forschung/news/2020/schwerpunkt_schule.html